DE 10: Kurzprosa / Teil 1

DE 11: Leerstellen

Plan für zu Hause

  1. Leerstellen als Lücken in der Sprache
  2. Leerstellen als Einladung

1. Leerstellen als Lücken in der Sprache

In der Literaturwissenschaft gibt es den Begriff der Leerstelle. Man versucht damit zu erfassen, dass jeder Text, egal wie dicht er ist, gegenüber der Wirklichkeit Lücken hat, die vom Leser gefüllt werden können und sogar gefüllt werden müssen.

Ein Beispiel: Das 12. Kapitel von Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen schließt mit diesen Worten: „Und sie schmiegte sich an ihn und blickte mit einem Ausdrück höchsten Glückes zu ihm auf.“ Das 13. Kapitel beginnt damit damit: „Beide waren früh auf“. Was dazwischen liegt ist die Leerstelle. Was ist hier wohl passiert? Überlege kurz:

  • Wieviel Interpretationsspielraum wird der Leserin hier gegeben?
  • Wie wahrscheinlich sind die jeweiligen Interpretationen?
  • Muss man eine Interpretation vornehmen, um den Text überhaupt zu verstehen?
  • Welche Folge haben die Interpretationen wohl für die Bedeutung der gesamten Geschichte? (Man stelle sich vor, „sie“ ist später schwanger?)

Erschließungsaufträge

  1. Lies die Definition von „Leerstelle“ auf Wikipedia.
  2. Beurteile, wie groß die Leerstellen in den folgenden Kürzestgeschichten sind.

Bertolt Brecht: Das Wiedersehen

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“ sagte Herr K. und erbleichte.

Botho Strauß: In einem Restaurant

In einem Restaurant erhebt sich eine größere Runde von jungen Männern und Frauen. Es ist bezahlt worden, und alle streben in lebhafter Unterhaltung dem Ausgang zu. Doch eine Frau ist sitzen geblieben am Tisch und sinnt dem nach, was eben an Ungeheuerlichem einer gesagt hat. Die anderen stehen bereits im Windfang des Lokals, da kommt ihr Mann zurück. Er hat kurz vor dem Ausgang bemerkt, dass ihm die Frau fehlt. Aber da steht sie auch schon auf und geht an ihm vorbei durch beide Türen.

Jacques Sternberg: Annäherung

Kann es denn sein, dass Sie mich lieben?, fragte er.
Vor der Antwort zögerte sie.

Throwback

Erinnert ihr euch an die letzten Geschichte von Sternberg? Alle, die bei mir Deutsch im letzten Lockdown hatten, haben bereits Übung darin, Leerstellen zu füllen. Schaut noch einmal rein, wie ihr bzw. die anderen diese Leerstelle am Ende gefüllt habt: Schreibexperiment Lockdown (Google Docs)

Braincrunch-Arbeitsauftrag

Beurteile, ob es nach der Auffüllung der ursprünglichen Leerstelle immer noch Leerstellen gibt. Sind sie geschrumpft, gleich geblieben oder sogar gewachsen?

2. Leerstellen als Einladung

Offenbar gibt es keinen Text ohne Leerstellen. Manche sind allerdings größer oder kleiner als andere. Größere Leerstellen sind die Voraussetzung für das, was man Fan Fiction nennt. Autor:innen von Fan Fiction suchen die Lücken in Texten und füllen sie kreativ auf. Manchmal machen sie damit eine im Haupttext erzählte Handlung plausibler, manchmal werfen sie ein völlig neues Licht auf die Geschichten. Manchmal schreiben sie einfach unter- oder überirdisch abgefahrenes Zeug, das kaumt zur Ursprungsgeschichte passt. Als professionelle Autor:innen müssen wir auf dem Boden der fiktiven Tatsachen bleiben (der „Canon“) und gleichzeitig Kreativität beweisen.

Arbeitsauftrag

  1. Suche in Corpus Delicti nach drei größeren Leerstellen, die spannende Fan Fiction erlauben würden. Begründe die Qualität deiner Funde.
  2. Lies dir die Tipps für Fan Fiction auf der unten verlinkten Seite durch. Ziehe die drei besten Tipps heraus, die man auch für eine Fortschreibung der von dir gefundenen Leerstellen in Corpus Delicti nutzen könnte.